Bedenke, wenn dir etwas Schlimmes passiert, meint es das Schicksal vielleicht gut mit dir
Bedenke, wenn dir etwas Schlimmes passiert, meint es das Schicksal vielleicht gut mit dir
von Claudia Baile aus dem Low Carb – LCHF Magazin 4 / 2016
Ich soll also meine Geschichte aufschreiben, hm. Will ich das? Will ich mich zurückerinnern? Also gut, denke ich halt mal darüber nach. Ach Mensch, da sind so viele blöde Sachen dabei (traurige Sachen will ich nicht sagen – das klingt so dramatisch) … aber Moment mal, warum sitze ich dann hier und lächle die ganze Zeit? Das muss dann wohl daran liegen, dass meine Geschichte ein Happy End hat oder, noch viel besser, dass mein Happy End gerade angefangen hat und ich weiß, wie ich es beibehalten kann. Wie ein Märchen, blöder Anfang, Happy End und wenn ich nicht gestorben bin… Na dann.
Es war einmal ein ganz normales Mädchen mit einer ganz normalen Figur. Sie wuchs auf in einer Zeit, als sich noch niemand Gedanken darüber machte, ob ein Kind schon eine Diät machen sollte, weil es ein paar Pfund zu viel hatte. Hatte das Mädchen auch nicht, bis sie eines Tages in die Pubertät kam. Schleichend veränderte sich ihre Figur. Sie nahm zu, seltsamerweise nur an den Oberschenkeln. Erste Stimmen wurden laut, dass das Mädchen vielleicht doch zu viel Süßes aß. Als die besorgte Mutter des Mädchens feststellte, dass sich an den Oberschenkeln schon „Schwangerschaftsstreifen“ zeigten, gingen sie zusammen zum Arzt. Er stellte ein schwaches Bindegewebe fest und empfahl dem Mädchen weniger zu essen. Das versuchte das Mädchen, aber die Oberschenkel interessierte das wenig. Im Gegenteil, sie wurden noch dicker und plötzlich begannen die Unterschenkel ebenfalls dicker zu werden. Obwohl das Mädchen zu diesem Zeitpunkt eigentlich noch „normal“ aussah, fühlte sie sich unwohl und begann, ihre Beine zu verstecken. Sie hatte Glück, denn die Mode spielte gerade verrückt und Beinstulpen waren in. So trug sie Beinstulpen (immer extra dick in Falten gelegt), um zu verbergen, dass ihre Unterschenkel wirklich so kräftigwaren. Außerdem waren ab sofort Freizeitbeschäftigungen, bei denen man die Beine hätte sehen können, gestrichen.
Als sie mit ihrem Freund zusammenzog, wollte sie für ihn natürlich schön sein und unternahm weitere Anstrengungen, um den widerspenstigen Beinen endlich Herr zu werden. Es musste an ihr liegen, irgendetwas musste sie ja falsch machen und herausfinden, was es war. Der Freund unterstützte sie bei allem, obwohl er das Problem nicht wirklich verstand. Schließlich wog sie ca. 65kg bei einer Größe von 169cm. Ok, sie war obenrum ganz schlank und ab der Hüfte halt etwas dicker, ja und?
Aber das Mädchen träumte weiter von schönen Beinen und begann täglich im Fitnessstudio zu trainieren (nur Beine und Po natürlich) und startete die erste richtige Diät. Die war damals gerade sehr populär mit dem neuartigen Punktesystem. Und JUHU, sie nahm ab. Aber nicht an den Beinen.
Nach etwa zwei Jahren gab sie frustriert das Fitnessstudie auf, beendete die Diät und nahm zu. Überall. Bis ihr die nächste Diät über den Weg lief. Sie nahm ab. Aber nicht überall. Die nächsten Jahre waren ein ständiges Wechselspiel zwischen Zu- und Abnahme. Mittlerweile eine junge Frau, machte das Mädchen jede noch so blödsinnige Diät mit, nahm Pillen, bis hin zu Amphetaminen und Schilddrüsenmedikamenten (Empfehlung vom Arzt, um den Stoffwechsel anzukurbeln). Sie nahm alles in Kauf, bis hin zu Herzrhythmusstörungen, nur um endlich abzunehmen. An der richtigen Stelle. Bitte, bitte endlich an der richtigen Stelle. Aber die Stelle musste taub sein, denn sie wurde weiter dicker.
Hinzu kam, dass die Mode sich in den Jahren natürlich änderte. Hosenbeine wurden eng, also nähte die junge Frau sich ihre Hosen selbst oder trug bodenlange Röcke, die zum Glück immer wieder in Mode kamen. Das Umfeld der jungen Frau nahm die Bemühungen mal mit mehr und mal mit weniger Verständnis auf. Ihre Mutter sagte: andere wären froh, wenn sie überhaupt Beine hätten. Ihre Freunde sagten: aber wir mögen dich doch so wie du bist. Bekannte sagten: aber du hast doch trotzdem so ein hübsches Gesicht. Die junge Frau dachte: ihr habt alle gut reden, ihr seid normal und wenn ihr nur wüsstet, wie hässlich meine Beine wirklich sind. Denn zwischenzeitlich waren sie nicht nur dicker geworden, sondern auch deutlich unförmiger.
In diesen Jahren machte die junge Frau ihre Ausbildung, arbeitete, hatte Beziehungen, einen tollen Freundeskreis, heiratete, erlernte immer wieder neue Dinge, die sie sehr erfolgreich ausübte und erntete oft Anerkennung. Nur sie selbst, akzeptierte sich nicht. Jeder wusste doch, man konnte es überall hören und lesen – Dicke sind willensschwach, disziplinlos, faul, schwitzen, riechen… also musste es doch an ihr liegen und jeder konnte es sehen. Sie war sich sicher, dass es auch jeder heimlich dachte. Immer wenn sie in der Öffentlichkeit etwas aß, war sie sich sicher, dass alle sie anstarrten und dachten, klar, die Dicke isst mal wieder.
Während einer erneuten Diät schlug ihr die Diätberaterin vor, doch mal zur Lymphdrainage zu gehen, da sie ja offensichtlich Wasser in den Beinen hätte. In der Hoffnung, das könnte die Lösung sein, machte sie einen Termin. Während der ersten Behandlung sagte der junge Mann so ganz nebenbei: das ist das ausgeprägteste Lipödem, das ich seit meiner Ausbildung gesehen habe. Und so erfuhr die junge Frau, dass sie eine genetisch bedingte, krankhafte Fettverteilungsstörung hatte, die auf Kalorienentzug nicht reagiert. Das Ganze wurde natürlich noch ärztlich gesichert. Dabei erfuhr sie dann auch, warum die Beine immer so schmerzten und sie ständig große blaue Flecken hatte. Gehörte alles zum Krankheitsbild. Auch, dass mittlerweile ihre Oberarme anfingen dicker zu werden und zu schmerzen.
Aber mein Gott, sie war nicht selbst Schuld! Zuerst fühlte sie eine Welle der Erleichterung, aber nach und nach setzte sich leider die Erkenntnis durch, dass sie ja jetzt nichts mehr tun konnte, dass es egal war, ob sie viel oder wenig aß. Sie würde immer dick sein. Also aß sie viel. Bis die mittlerweile nicht mehr ganz so junge Frau eines Tages durch Zufall die Diagnose „Nierenkrebs“ bekam. Sie hatte Glück, es wurde sehr früh entdeckt und der Tumor konnte entfernt werden, ohne weitere Konsequenzen. Zumindest was die Behandlung betraf.
Denn während des Krankenhausaufenthaltes hatte sie viel Zeit zum Nachdenken und kam endlich zu dem Schluss, dass sie nur dieses eine Leben hatte, und dass sie es nicht weiter danach leben wollte, was Andere vielleicht von ihr denken. Und schon gar nicht, was Andere über ihr Äußeres denken. Sie war, verdammt noch mal, eine intelligente, freundliche, hilfsbereite Frau und als solche wollte sie auch in Zukunft gesehen werden. Langsam dämmerte es ihr, dass die meisten Menschen in ihrem Umfeld das schon längst getan und ihr das sogar auch gesagt hatten. Sie erinnerte sich an Worte wie „wenn ich dich anschaue, sehe ich nicht, dass du dick bist“ oder „es ist mir vollkommen egal, wie du aussiehst“. Ihr wurde klar, dass SIE ihre Meinung über SICH ändern musste. Das war nicht so einfach und es klappte nicht immer, aber sie wurde immer besser darin.
Da sie ihr neues Lebensgefühl noch eine Weile ausleben wollte, suchte sie nach alternativen Methoden, um den Krebs von ihrem Leben fern zu halten. Und stieß dabei im Internet auf ein PDF von Frau Prof. Kämmerer, in dem die ketogene Ernährung bei Krebs beschrieben war. Sie fand das sehr interessant und forschte weiter in diese Richtung und fand so zu LCHF. Sie beschloss, ihrer Gesundheit zuliebe, ihre Ernährung umzustellen. Sie begann konsequent nach striktem LCHF zu leben. Und das Wunder geschah. Sie fühlte sich nicht nur hervorragend, sie nahm auch ab. Und zwar überall! Sie verlor fantastische 51kg. Sie trug jetzt Kleidergröße 42, war immer noch nicht gertenschlank, da zwar das normale Fett verschwunden war, aber das Lipödem natürlich nicht. Aber es war ihr egal. Klar, sie versteckte ihre Beine und Arme weiterhin, weil sie sie hässlich fand. Aber sie definierte sich nicht mehr über ihr Gewicht oder ihre Beine, sondern über ihr ICH.
So, Happy End. Oder? Wie ich am Anfang schon erwähnte, hat mein Happy End vor drei Jahren erst angefangen. Ich habe durch LCHF abgenommen, mein Lipödem in den Griff bekommen und viele Zipperlein verabschiedet. Ich habe verrückte Dinge getan, wie für einen Tag nach Tirol zu fahren, um Daniela Pfeifer und Monika und Samir Charrak zu treffen. Margret und Iris kennengelernt und dadurch die Ausbildung zum ganzheitlichen Gesundheits- und Ernährungs-Coach absolviert, zu dem ich als „Dozentin“ den Lehrbrief Anatomie und Physiologie beisteuern durfte, worauf ich sehr stolz bin. Bei der Ausbildung habe ich wunderbare Mädels kennengelernt, die mein Leben weiter bereichert haben und durch die ich noch mehr über mich gelernt habe.
Dieses Jahr habe ich noch weitere Trainerkurse für verschiedene Entspannungstechniken gemacht und nächstes Jahr geht es richtig los. Mein Mann, meine Mutter und meine Freunde sind stolz auf mich und unterstützen mich, auch wenn sie manchmal den Kopf schütteln. Und dafür bin ich dankbar.
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