DMP Adipositas: Lebensstilmaßnahmen im Fokus
Das LCHF Deutschland Team hat einen weiteren interessanten Gastbeitrag von Dr. Dippel erhalten. „DMP Adipositas: Lebensstilmaßnahmen im Fokus“ ist ein interessanter Artikel, der auf neue Behandlungsprogramme eingeht.
Zur Person: Dr. rer. med. Franz-Werner Dippel hat Biologe studiert und in Medizin promoviert. Er hat mehr als 20 Jahre Industrieerfahrung in verschiedenen Funktionen der Herz-Kreislauf- und Stoffwechselforschung. Seit 2018 ist er Gaststudent an der TU Berlin und als freiberuflicher Dozent für Gesundheit und Ernährung tätig.
DMP Adipositas: Lebensstilmaßnahmen im Fokus
Für Erwachsene mit Adipositas wird es demnächst ein Disease-Management-Programm (DMP) geben. Dazu hat der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) im November letzten Jahres die Anforderungen konkretisiert. Was das DMP Adipositas im Einzelnen beinhaltet erfahrt ihr hier.
Erfolgsmodell DMP
Die ersten DMPs wurden 2002 in Deutschland eingeführt. Mit insgesamt etwa 8,5 Millionen eingeschriebenen Patienten hat die Teilnehmerzahl 2022 einen vorläufigen Höchststand erreicht. Mittlerweile hat der GBA die Anforderungen für insgesamt zwölf DMPs beschlossen. Die strukturierten Behandlungsprogramme sollen die diagnostischen, therapeutischen und pflegerischen Maßnahmen bündeln, die Behandlungsqualität steigern, Versorgungslücken schließen und die Kosten senken.
Das DMP Adipositas soll stark übergewichtige Menschen bei der Gewichtsreduktion unterstützen. Der Weg dafür wurde frei, nachdem der Deutsche Bundestag die Fettleibigkeit im Juli 2020 zur chronischen Krankheit erklärt hat. Therapieziele sind die Verringerung der Adipositas-assoziierten metabolischen, kardialen, zerebralen und vaskulären Morbidität, die Erhaltung bzw. Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität sowie die Verminderung des Risikos eines vorzeitigen Versterbens. Die integrative Behandlung der Adipositas erfolgt nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft auf Basis evidenzbasierter Leitlinien. Diese Vorgehensweise stellt eine grundlegende Reform im Umgang mit starkem Übergewicht dar und zeichnet den ganzheitlichen Versorgungsansatz aus [1,2].
Die Langzeit-Betreuung der adipösen Patienten erfolgt grundsätzlich durch den koordinierenden Hausarzt. Er stimmt die diagnostischen, therapeutischen, rehabilitativen und pflegerischen Maßnahmen aufeinander ab, bezieht nichtärztliche Hilfen und flankierende Dienste mit ein, führt die Befunde zusammen und dokumentiert diese. In Ausnahmefällen kann auch ein zugelassener Facharzt für Innere Medizin mit einer spezifischen Weiterbildung in Diabetologie, Ernährungsmedizin, Endokrinologie oder Gastroenterologie die Koordination übernehmen.
Fördern und fordern
Betroffene sollen durch ihre Teilnahme am DMP einen selbstverantwort-lichen Umgang mit dem krankhaften Übergewicht erlernen und Kompetenzen zum Selbstmanagement der Adipositas aufbauen. Eine multimodale Patientenschulung ist deshalb zentraler Bestandteil des DMP Adipositas [1,2]. Als Mindestanforderung hat der GBA eine individuell angepasste Kombination konservativer Maßnahmen aus Ernährungsumstellung, Steigerung der körperlichen Aktivität sowie Schritten zur Verhaltensmodifikation festgelegt, welche inhaltlich aufeinander abgestimmt sein müssen. Die Effektivität einer multimodalen Patientenschulung ist kausal begründet und evidenzbasiert [3]. Die Schulung dauert zwölf Monate und findet einmal wöchentlich im Rahmen von Gruppensitzungen à 12 bis 15 Teilnehmern statt. Die ersten sechs Monate fokussieren auf die Gewichtsreduktion. In der anschließenden Stabilisierungsphase lernen die Teilnehmer ihr reduziertes Gewicht zu halten. Die Kosten dafür sind integraler Bestandteil des DMPs Adipositas und werden von den Krankenkassen übernommen. Wer seine Mitwirkungspflichten allerdings zwei Quartale lang vernachlässigt, kann aus dem DMP ausgeschrieben werden [2].
Energiedefizit entscheidend
Initial wird eine Senkung des Körpergewichts um mindestens 5 bzw. 10 % innerhalb von 6-12 Monaten in Abhängigkeit vom Grad der Fettleibig-keit angestrebt. Dazu soll ein Ernährungskonzept gewählt werden, welches zu einer negativen Energiebilanz beiträgt. Als Richtwert wird ein Energiedefizit von 500-600 kcal pro Tag angestrebt. Die Empfehlung basiert auf einem hohen Evidenz- und Empfehlungsgrad [3]. Die Kosten für eventuell eingesetzte Formula-Diäten und diätetische Lebensmittel müssen jedoch von den Teilnehmern selbst getragen werden.
Zur langfristigen Gewichtsstabilisierung stehen den Patienten eine Viel-zahl ernährungsbezogener Empfehlungen zur Verfügung [3]. Dazu gehören die DASH-Diät, die mediterrane und vegetarische Kost sowie das nordische Ernährungsmuster. Weitere Optionen sind Low-Carb- und Low-Fat-Diäten sowie diverse Intervallfasten-Varianten. Allen Diäten gemeinsam ist die Steigerung der Obst- und Gemüsezufuhr, der bevorzugte Verzehr von Vollkornprodukten, Hülsenfrüchten, Kartoffeln, Nüssen und hochwertigen Pflanzenölen (z.B. Oliven-, Lein- oder Rapsöl) sowie eine moderate Aufnahme von Fisch und fettarmen Milcherzeugnissen. Im Gegenzug wird die Reduzierung von Salz, Süßigkeiten, Feingebäck, Mehlspeisen, rotem Fleisch sowie verarbeiteten Wurstwaren empfohlen. Die breite Auswahl an Ernährungsstrategien ermöglicht die Berücksichtigung von patientenbezogenen Gewohnheiten und Präferenzen.
In Bewegung kommen
Zur Gewichtsabnahme und Reduktion des Körperfettanteils wird ein Ausdauertraining mäßiger Intensität von wenigstens 2,5 Stunden pro Woche empfohlen. Durch begleitendes Krafttraining soll in Phasen der Gewichtsabnahme dem Verlust von Muskelmasse entgegengewirkt werden. Alle Empfehlungen zur Steigerung der körperlichen Aktivität werden durch einen hohen Evidenz- und Empfehlungsgrad gestützt [3]. Die Intensivierung der körperlichen Aktivität hat darüber hinaus einen positiven Einfluss auf den Blutdruck, die Insulinsensitivität, die kardio-respiratorische Leistungsfähigkeit sowie das allgemeine Wohlbefinden.
Verhaltensmuster ändern
Maßnahmen zur Verhaltensmodifikation sollen die Erreichung der zuvor genannten Ernährungs- und Bewegungsziele unterstützen. Die Vorgehensweise orientiert sich dabei an der individuellen Lebenssituation des Patienten, seinem soziokulturellen und sozioökonomischen Hintergrund sowie seinen persönlichen Möglichkeiten und Erwartungen [2]. Zu den Verhaltensempfehlungen gehören z.B. die Selbstbeobachtung, Kochkurse, Strategien zur Stressbewältigung, Techniken zur Stimulus- und Impulskontrolle sowie Methoden zur Regulation von Emotionen. Nicht zuletzt soll auch die Einbindung des familiären und sozialen Umfeldes gefördert werden.
Selektiver Teilnehmerkreis
In das DMP-Adipositas können adipöse Patienten ab dem vollendeten 18. Lebensjahr mit einem Body-Mass-Index (BMI) über 30 kg/m2 eingeschrieben werden. Der BMI basiert auf anthropometrischen Messungen und ist ein weltweit anerkannter Surrogat-Parameter für den Körperfettanteil [3]. Um diejenigen Patienten zu identifizieren, die am meisten vom DMP Adipositas profitieren, wird neben dem Köpergewicht auch die individuelle Krankheitslast berücksichtigt. Für Patienten mit einem BMI < 35 kg/m2 ist deshalb das Vorliegen von mindestens einer übergewichtsbedingten Gesundheitsstörung als Voraussetzung für die Teilnahme am DMP festgelegt [2]. Dazu zählen z.B. arterielle Hypertonie, Prädiabetes oder Typ-2-Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Hypothyreose, Polyzystisches Ovarialsyndrom und obstruktives Schlaf-Apnoe-Syndrom. Patienten mit einem BMI ≥ 35 kg/m2 können ohne das Vorliegen einer Begleiterkrankung in das DMP eingeschlossen werden.
Digitale Helfer
Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) sollen das Erlernen von gesundheitsfördernden Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltensweisen unterstützen. Von insgesamt elf geprüften Apps auf Rezept erfüllen zwei die Anforderungen des GBA. DiGAs können bei adipösen Erwachsenen mit einem BMI zwischen 30 und 40 kg/m2 ärztlich verschrieben werden und sind erstattungsfähig.
Natürliche Gewichtsregulierung
Medikamente, die zur Abmagerung oder zur Zügelung des Appetits bzw. zur Regulierung des Körpergewichts dienen werden von den Krankenkassen nicht erstattet (Lifestyle-Arzneimittel). Darunter fallen auch die kürzlich zugelassenen Abnehmspritzen Semaglutid und Tirzepatid. Angesichts der Jahrestherapiekosten (ca. 3.600 €), der Prävalenz der Adipositas (ca. 18 Mio. Erwachsene) sowie der lebenslangen Anwendungsdauer (Rebound-Effekt) würde eine Verordnung zu Lasten der Krankenkasse das deutsche Krankenversicherungssystem sprengen. Verstärkte Anreize für mehr Eigenverantwortung und Patientenbeteiligung im DMP Adipositas könnten den Ausschluss der Pharmakotherapie kompensieren.
Adipositaschirurgie als Ultima Ratio
Nach Ausschöpfen der konservativen Behandlungsmöglichkeiten kann ein chirurgischer Eingriff erwogen werden. Primärindikation für eine Operation ist ein BMI ≥ 40 kg/m2 oder ein BMI ≥ 35 kg/m2 mit erheblichen Komorbiditäten. Gemäß einem Urteil des Bundessozialgerichts vom Juni 2022 ist ein chirurgischer Eingriff jedoch auch ohne Ausschöpfen konservativer Therapien möglich. Operative Eingriffe sind unumkehrbar und im Anschluss mit den gleichen Lebensstilmaßnahmen verbunden, die auch vor dem Eingriff empfohlen wurden.
Realistische Qualitätskriterien
Nach zwölf Monaten sollten 50% der Teilnehmer mit einem BMI < 35 kg/m2 ihr Gewicht um mindestens 5% reduziert haben. Für 20% der Teilnehmer mit einem BMI ≥ 35 kg/m2 sollte die Gewichtsabnahme mindestens 10% betragen. Für regelmäßige körperliche Alltagsaktivitäten bzw. regelmäßiges körperliches Training wird ein Zielerreichungsgrad von 90 bzw. 70% festgesetzt. Der angestrebte Anteil an Teilnehmern mit einem adäquat veränderten Ernährungsverhalten sollte bei 70% liegen. Die dauerhafte Teilnahme am multimodalen Schulungsprogramm sollte mindesten 80% betragen. 60% der Hypertoniker sollten einen Blutdruck unter 140/90 mmHg haben und der Anteil an Patienten mit Prädiabetes, bei denen in der Folge kein manifester Diabetes mellitus aufgetreten ist, sollte bei mindestens 45% liegen. Für den erstmalig zu erstellenden Qualitätsbericht wird ein Evaluationszeitraum von 48 Monaten festgelegt.
Finanzielle Herausforderung
Bei einer angenommenen Anzahl von 28.000 beteiligten Ärzten und 550.000 eingeschriebenen Patienten ergibt sich im ersten Jahr eine Leistungsausweitung für Einarbeitungs- und Dokumentationskosten in Höhe von ca. 10 Millionen Euro. In den Folgejahren wird mit jährlichen Bürokratiekosten in Höhe von etwa 8.5 Millionen Euro gerechnet [2]. Hinzu kommen noch die Kosten der Erstuntersuchung, der regelmäßigen Verlaufskontrollen sowie die finanziellen Zuschüsse der Kassen für individuelle Ernährungsberatung bzw. die Teilnahme an Sport- und Fitnessprogrammen. Allein die einmaligen Kosten für das Patientenschulungsprogramm von ca. 3.200 Euro pro Teilnehmer sowie die Kosten von ca. 900 Euro pro Teilnehmer und Jahr für Apps auf Rezept schlagen mit 1.76 Milliarden sowie 495 Millionen Euro zu Buche. Ob die Zusatzkosten des DMP-Adipositas langfristig zu Einsparungen führen, ist ungewiss. Um die Effizienz der Gesundheitsversorgung weiter zu steigern, könnte man z.B. ergebnisabhängige Vergütungselemente (pay for performance) in die Verträge zum DMP-Adipositas integrieren.
Besorgniserregende Entwicklung
Seit den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts ist die Prävalenz der Primären Adipositas in Deutschland kontinuierlich angestiegen. Die Ursachen dafür sind seit langem bekannt und überall auf der Welt gleich: Es ist der zunehmende Verzehr minderwertiger, stark zucker-, fett- und salzhaltiger Nahrungsmittel. Dennoch dauerte es sehr lange, bis 2019 erstmalig der wissenschaftliche Beweis für die Kausalität zwischen dem Verzehr industriell hoch verarbeiteter Fertigprodukte und Gewichtszunahme erbracht wurde [4]. Insofern ist Adipositas keine Krankheit im medizinischen Sinn, sondern Ausdruck eines jahrzehntelangen Versagens der Gesundheits-, Landwirtschafts-, Verbraucher- und Sozialpolitik. Das DMP-Adipositas stellt zwar eine deutliche Verbesserung der bisherigen Versorgungssituation dar, dennoch wird mit dem strukturierten Behandlungsprogramm kein einziger neuer Fall von Übergewicht bzw. Adipositas verhindert. Zur Verbesserung der Gesamtsituation bedarf es deshalb zusätzlicher finanz- und ordnungspolitischer Maßnahmen im Bereich der Primärprävention.
Richtungswechsel erforderlich
Nach Ansicht von Public Health Experten besteht die Lösung des Problems primär in der Schaffung einer gesundheitsförderlichen Ernährungsumgebung für die Bevölkerung. Zu den wichtigsten verhältnispräventiven Maßnahmen zählen die stärkere Besteuerung industriell hochverarbeiteter Fertigprodukte, Fast-Food und gesüßter Getränke, die Reduktion von Zucker, gehärteten Fetten, Salz und synthetischen Zusatzstoffen in Nahrungsmitteln, gesündere Gemeinschaftsverpflegung in Kitas, Schulen, Krankenhäusern, Altersheimen, Behörden und Kantinen, umfangreiche Werbeeinschränkungen für ungesunde Nahrungsmittel (insbesondere für Kinder), breit angelegte Informations- und Aufklärungskampagnen für die Bevölkerung sowie eine eindeutige Lebensmittelkennzeichnung z.B. nach chilenischem Vorbild. Im Gegenzug sollten naturbelassene sowie schonend bzw. gering verarbeitete Grundnahrungsmittel von der Mehrwertsteuer befreit werden. Diese Maßnahmen werden von zahlreichen medizinischen Fachgesellschaften und Verbraucherschutzorganisationen unterstützt. Sie entbinden den Einzelnen jedoch nicht von seiner persönlichen Verantwortung für die eigene Gesundheit.
Lies auch gerne einen weiteren Beitrag von Dr. Dippel: Adipositas: Keine Frage der Schuld
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Literaturverzeichnis des Artikels: DMP Adipositas: Lebensstilmaßnahmen im Fokus
- Beschlusstext: DMP-Anforderungen-Richtlinie/DMP Adipositas (Anlagen 2, 23 und 24). https://www.g-ba.de/downloads/39-261-6299/2023-11-16_DMP-A-RL_Anlage-2-23-24-Adipositas.pdf
- Tragende Gründe zum Beschluss. https://www.g-ba.de/downloads/40-268-10235/2023-11-16_DMP-A-RL_Anlage-2-23-24-Adipositas_TrG.pdf
- Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Leitliniensynopse Adipositas-Erwachsene; Abschlussbericht 2022. https://www.iqwig.de/download/v21-05_leitliniensynopse-adipositas-erwachsene_abschlussbericht_v1-0.pdf.
- Hall KD et al. Ultra-processed diets cause excess calorie intake and weight gain: an inpatient randomized controlled trial of ad libitum food intake. Cell Metabolism 2019; 30: 67-77.
Titelbild: Canva