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Adipositas: Keine Frage der Schuld

Adipositas: Keine Frage der Schuld

Adipositas: Keine Frage der Schuld

Das LCHF Deutschland Team hat einen weiteren interessanten Gastbeitrag von Dr. Dippel erhalten. „Adipositas: Keine Frage der Schuld“ ist ein interessanter Artikel, der u.a. die Fertig-Essen-Falle beleuchtet.

 

Zur Person: Dr. rer. med. Franz-Werner Dippel hat Biologe studiert und in Medizin promoviert. Er hat mehr als 20 Jahre Industrieerfahrung in verschiedenen Funktionen der Herz-Kreislauf- und Stoffwechselforschung. Seit 2018 ist er Gaststudent an der TU Berlin und als freiberuflicher Dozent für Gesundheit und Ernährung tätig.

Adipositas: Keine Frage der Schuld

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Adipositas: Keine Frage der Schuld

 

Zerlegt, modifiziert, neu zusammengesetzt, mit Zusatzstoffen angereichert und in Form gepresst. Schmackhafte und energiereiche Fertigprodukte sind immer und überall verfügbar und machen mittlerweile den größten Teil unserer täglichen Kalorienzufuhr aus. Ernährungsexperten sehen darin die Hauptursache für den rasanten Anstieg von Übergewicht und Adipositas in unserer Gesellschaft. Es liegt also nicht an Ihnen, wenn Sie kontinuierlich zunehmen, es liegt an Ihrer Ernährungsumgebung.

Alarmierende Entwicklung

Viele tausend Jahre hindurch blieb das menschliche Körpergewicht bemerkenswert stabil. Übergewicht war eine Ausnahmeerscheinung. Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte eine abrupte Veränderung ein. Die pandemische Ausbreitung der Adipositas nahm ihren Ursprung in den USA. Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs stieg auch die Zahl der übergewichtigen Deutschen rapide an. Mittlerweile sind die meisten Industrieländer sowie zahlreiche Schwellen- und Entwicklungsländer ebenfalls in diesen Sog geraten. Die Rate der Fettleibigkeit hat sich nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1975 bis 2015 global fast verdreifacht. Der Umbruch geht auf einen grundlegenden Wandel der Nahrungsmittelproduktion sowie der Ernährungsgewohnheiten zurück. Deutschland befindet sich, was den Anteil stark übergewichtiger Menschen angeht, in der Spitzengruppe Europas. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) sind derzeit zwei Drittel der Männer (67%) und die Hälfte der Frauen (53%) übergewichtig. Fast ein Viertel der Erwachsenen (23% der Männer und 24% der Frauen) ist sogar adipös [1]. Das entspricht etwa 18 Mio. Menschen. Von einer nicht unerheblichen Dunkelziffer ist auszugehen, da die Zahlen bereits aus dem Jahr 2012 stammen.

Die Fertigessen-Falle

Über die Ursachen der Adipositas wurde schon viel geschrieben. Neben genetischen, hormonellen und medikamentösen Faktoren werden auch psychische Störungen dafür verantwortlich gemacht. Im Einzelfall treffen diese Erklärungen zu, der massenhafte Anstieg der Adipositas in den letzten 50 Jahren lässt sich dadurch jedoch nicht erklären. Die Hauptursache der Übergewichts- bzw. Fettleibigkeitskrise ist nach Überzeugung führender Ernährungswissenschaftler eine kontinuierliche Über- bzw. Fehlernährung. Man spricht deshalb auch von primärer Adipositas, um sie von solchen Fällen abzugrenzen, die sich auf dem Boden einer Grunderkrankung (z.B. Hypothyreose, Cushing-Syndrom, Depression) oder eines genetischen Defekts (z.B. Mutationen des Leptin- oder Melanocortin-4 Rezeptors) entwickeln. Schätzungen gehen davon aus, dass der Anteil der ernährungsbedingten Adipositas etwa 95% beträgt. Die Gründe für die starke Zunahme von Übergewicht und Fettleibigkeit sind praktisch überall auf der Welt dieselben: Es ist der zunehmende Konsum von industriell stark verarbeiteten Fertigprodukten und gesüßten Getränken. Bedingt durch den hohen Verarbeitungsgrad konsumieren Amerikaner heute 500 kcal pro Tag mehr als noch vor 50 Jahren. Ein täglicher Energieüberschuss von nur 250 kcal, das entspricht etwa einem Croissant, einem Cheeseburger, einem Milchshake oder einem Glas Limonade, führt so schnell zu einer Gewichtszunahme von etwa 1kg im Monat und 12 kg im Jahr.

Die Transformation des Essens

Im Verlauf der biologischen Evolution hat sich unser Organismus hervorragend an eine breite Palette von pflanzlichen und tierischen Produkten angepasst. Noch im 18. Jahrhundert wurden die meisten Lebensmittel überwiegend in naturbelassener oder minimal verarbeiteter Form verzehrt. Die Verarbeitungstechniken beschränkten sich vorwiegend auf die Zerkleinerung bzw. Zerlegung sowie das Kochen, Backen und Braten pflanzlicher und tierischer Lebensmittel. Die Haltbarkeit der Nahrung wurde durch Fermentieren, Trocknen, Räuchern oder Pökeln verlängert. Allen Verarbeitungsprozessen war jedoch eins gemeinsam: Die Integrität der Lebensmittel blieb dabei weitgehend erhalten. Ihre ursprüngliche Herkunft ließ sich leicht zurückverfolgen und war in der Regel auch mit bloßem Auge erkennbar.

 

Mit der industriellen Revolution, Mitte des 19. Jahrhunderts, und der damit einhergehenden Bevölkerungsexplosion, erfolgte die größte Umwälzung der menschlichen Ernährung. Sie ist durch die zunehmende Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und den vermehrten Einsatz von Maschinen zur Herstellung von Nahrungsmitteln gekennzeichnet. Die Naturwissenschaften Chemie, Biologie und Physik lieferten die analytischen Methoden, mit denen sich alles Essbare bis in seine molekularen Bestandteile zerlegen ließ. Damit war es erstmals möglich, Nährstoffe nach Bedarf neu zu kombinieren. Gleichzeitig entwickelten die Ingenieurswissenschaften lebensmitteltechnologische Verfahren zur Herstellung von formstabilen Texturen jeglicher Gestalt, Struktur und Konsistenz.

 

Heute stammen unsere Kalorien zunehmend aus Stoffen, die nie – bzw. nicht in dieser Menge und Zusammensetzung – Bestandteil der menschlichen Ernährung waren. Hochverarbeitete Nahrungsmittel machen in Industrieländern mittlerweile 60-80 % der täglich aufgenommen Kalorien aus. Für Menschen aus USA, Kanada, Australien sowie zahlreichen europäischen Ländern stellen Sie inzwischen die „Landesküche“ dar.

Ingenieure des Essens

Nutzpflanzen sowie Tierkörper werden heute industriell zerkleinert und in ihre wertgebenden Substanzen getrennt. Die extrahierten Makromoleküle durchlaufen danach weitere, strukturverändernde Verarbeitungsschritte: Stärken werden modifiziert oder verzuckert, Öle gehärtet, umgeestert und raffiniert und Proteine in Aminosäuren getrennt. Ziel der Verarbeitung ist die Herstellung von standardisierten Grundsubstanzen in definierten Partikelgrößen und Reinheitsgraden. Die physikalisch, chemisch und enzymatisch fraktionierten und stofflich variierten Nahrungsmittelbestandteile – in Form von Pulvern, Granulaten, Pasten Gelen oder Flüssigkeiten – dienen dann als Ausgangsmaterialien für nahezu alle hochverarbeiteten Lebensmittel, von Fischstäbchen über Müsliriegel bis hin zu Eiscreme. Sie können in beliebigen Verhältnissen miteinander vermischt, mit Ballast- und Mikronährstoffen angereichert, und anschließend gesüßt, eingefärbt, aromatisiert, stabilisiert und konserviert werden. Auf diese Weise lässt sich eine unüberschaubare Anzahl künstlicher Nahrungsmittel herstellen und mithilfe industrieller Techniken in die gewünschte Textur und Form bringen. Dabei wird die natürliche Komplexizität der Makro- und Mikronährstoffe sowie deren biologische Funktion zerstört. Das Ergebnis sind „hyperschmackhafte“ Fertigprodukte mit hoher Energiedichte und wenigen bis keinen Vitalstoffen (Beispiel siehe Kasten 1).

 

Kasten 1

Vanille Eis mit Mandeln. Das Fertigprodukt enthält folgende 21 Zutaten: MOLKENERZEUGNIS, entrahmte MILCH, Zucker, Kakaobutter, Kokosfett, Glukose-Fruktose-Sirup, gehackte MANDELN, Glukosesirup, BUTTERFETT, Kakaomasse, MAGERMILCHPULVER, LAKTOSE, Emulgatoren: Mono- und Diglyceride von Speisefettsäuren, Lecithine (SOJA), Polyglycerin-Polyricinoleat; Stabilisatoren: Johannisbrotkernmehl, Guarkernmehl; Bourbon-Vanilleextrakt, färbendes Karottenkonzentrat; extrahierte gemahlene Vanilleschoten.

*Die Großschreibung dient der Allergenkennzeichnung.

Bahnbrechender Forschungsansatz

Auf diese Umstände und Zusammenhänge machte 2010 ein Team von brasilianischen Wissenschaftlern unter der Leitung von Carlos Monteiro aufmerksam. Sie untersuchten die Auswirkungen von industriell stark verarbeiteten Fertigprodukten auf das Körpergewicht sowie die Gesundheit von Menschen verschiedener Länder. Anstatt sich dabei auf einzelne Makronährstoffe zu fokussieren, nahmen sie das gesamte Ernährungsmuster verschiedener Bevölkerungsgruppen in den Blick. Dabei fanden sie deutliche Unterschiede. Die traditionelle Ernährung bestand hauptsächlich aus frischen und weitgehend unverarbeiteten Lebensmitteln. Die „moderne“ Ernährung umfasste vorwiegend industriell hochverarbeitete Fertigprodukte aus dekonstruierten und modifizierten Zutaten, die mit zahlreichen synthetischen Zusatzstoffen versetzt war.

 

Zur besseren Einordung und Abgrenzung dieser beiden Ernährungsmuster entwickelte das Team eine neue Einteilung der Nahrungsmittel, die so genannte NOVA-Klassifikation [2]. Auf dieser Grundlage wurde in der Folge eine große Anzahl an Studien publiziert, die alle nahelegen, dass stark verarbeitete Fertigprodukte den menschlichen Körper schädigen, indem sie die Entwicklung von Adipositas verursachen, kardiometabolische Erkrankungen fördern, Krebserkrankungen begünstigen und zu einer Verkürzung der Lebenserwartung beitragen [3, 4].

 

Die Ordnung der Nahrung

Die erste Nahrungsgruppe der NOVA-Klassifikation umfasst naturbelassene bzw. traditionell hergestellte Lebensmittel. Dazu gehören Vollkorngetreide, Hülsenfrüchte, Kartoffeln, Fleisch, Geflügel, Fisch, Meerestiere, Eier, Milchprodukte, frisches und fermentiertes Gemüse sowie Pilze und Obst. Die tierischen und pflanzlichen Rohstoffe werden manuell zerkleinert, gegebenenfalls fermentiert und bei Bedarf gekocht, gebacken oder gebraten. Durch diese einfachen Verarbeitungstechniken können rohe Lebensmittel verdaulicher gemacht und die Energieausbeute verbessert werden.

 

Der Gebrauch von Werkzeugen sowie die Nutzung des Feuers waren es, die den Menschen bereits vor etwa einer Million Jahre an die Spitze der Nahrungspyramide beförderten. Im weiteren Verlauf der kulturellen Evolution hat sich das menschliche Verdauungssystem an die neuen Zubereitungsmethoden angepasst. Das gilt sowohl für die Anatomie des Magen-Darm-Traktes als auch für die Physiologie von Verdauung und Stoffwechsel.

 

Zur zweiten Nahrungsgruppe werden industriell verarbeitete Zutaten gerechnet, wie z.B. Auszugsmehl, Zucker, Speiseöl, Butter, Schmalz, Essig und Salz. Nahrungsmittel dieser Gruppe sind nicht zum unmittelbaren Verzehr geeignet. Sie dienen primär der Zubereitung von Speisen im eigenen Haushalt. Ausschließlich mit Nahrungsmitteln dieser Gruppe ist eine ausgewogene Ernährung jedoch nicht möglich. Sie haben zwar einen hohen Energiegehalt aber nur wenige bis keine Vitalstoffe (Vitamine, Mineralien, Spurenelemente, Ballaststoffe und sekundäre Pflanzenstoffe).

 

Die Gruppe drei umfasst Nahrungsmittel aus den beiden ersten Kategorien, wobei die eingesetzten handwerklichen oder industriellen Verarbeitungstechniken in erster Linie der Haltbarmachung dienen. Beispiele sind Back- und Teigwaren, Räucherfleisch, Dauerwurst, Käse sowie Fisch-, Fleisch-, Gemüse- und Obstkonserven.

 

Zur Gruppe vier zählen schließlich Nahrungsmittel deren Rezepturen und Inhaltsstoffe ausschließlich in der Industrie verwendet werden und bei deren Herstellung eine Reihe technologischer Verfahren zum Einsatz kommen. Mit der industriellen Verarbeitung von Lebensmitteln zu Fertigprodukten wird die Energieausbeute der Nahrung im Vergleich zur traditionellen Verarbeitung im Haushalt noch einmal um mehrere Größenordnungen gesteigert. Mit der Aufspaltung von Lebensmitteln in ihre molekularen Bestandteile und der Entfernung jeglicher Ballast- und Vitalstoffe wird die komplexe Struktur der natürlichen Matrix vollständig aufgehoben. Wesentliche Schritte der menschlichen Verdauung werden dadurch bereits vorweggenommen. Zahlreiche Inhaltsstoffe verzehrfertiger Industrienahrung werden als Monomere, ohne nennenswerte Verdauungsarbeit, bereits im oberen Abschnitt des Dünndarms in den Blutkreislauf aufgenommen und unmittelbar dem Energie- und Baustoffwechsel des Körpers zugeführt werden. Das gilt insbesondere für den Konsum von Softdrinks sowie den Verzehr von Süßwaren.

 

Der Aufschluss der Lebensmittelmatrix ist der geschwindigkeitsbestimmende Schritt bei der Verdauung der Nahrung, der Resorption der Nährstoffe sowie der Einstellung des Sättigungsgefühls. Deswegen sind naturbelassene Lebensmittel sättigender als Nährstoffcocktails aus pürierten bzw. verflüssigten Fertigprodukten (Beispiel siehe Kasten). Hinzu kommt, dass die unnatürliche Textur und Konsistenz stark verarbeiteter Lebensmittel das Schmelzverhalten im Mund beschleunigt und das Kauen vor dem Schlucken weitgehend überflüssig macht. Das allgegenwärtige Fett wirkt darüber hinaus wie ein Gleitmittel. Die industrielle Lebensmittelverarbeitung erzeugt auf diese Weise eine Art Babynahrung für Erwachsene. Nahrungskalorien werden dadurch immer leichter zugänglich und die körpereigenen Sättigungssignale einfach überrannt.

 

Kasten 2

Hochverarbeitete Fertigprodukte sind keine Lebensmittel wie z.B. ein Apfel. Die Fasern bzw. Ballaststoffe, die einem Apfel Form, Struktur und Festigkeit verleihen, machen nur etwa 2,5% seines Gewichts aus. Die restlichen 97,5% sind Saft. Die Art und Weise, wie die Fasern in dem Apfel angeordnet sind, bezeichnet man als Lebensmittelmatrix. In einem Experiment wurden Probanden Äpfel in drei unterschiedlichen Zubereitungen angeboten: als Saft, als Püree oder als Apfelstückchen. Bei Saft und Püree waren ein stärkerer Anstieg der Blutzucker- und Insulinwerte zu beobachten als bei den Apfelschnitzen. Obwohl Apfelpüree alle Bestandteile des rohen Apfels enthielt, inklusive der Ballaststoffe sowie der bioaktiven Substanzen, war die Reaktion des Körpers im Vergleich zu den Apfelstückchen deutlich verändert. Daraus lässt sich schließen, dass die intakte Lebensmittelmatrix den höchsten gesundheitlichen Wert hat.

 

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile

Eine strenge Grenzlinie zwischen verarbeiteten und unverarbeiteten Lebensmitteln zu ziehen, gelingt nicht in jedem Fall. Fest steht jedoch, dass die biologische Qualität von Lebensmitteln mit jedem zusätzlichen Verarbeitungsschritt weiter abnimmt. Je weniger von dem Ursprungs-Lebensmittel noch erkennbar ist, desto höher ist sein Verarbeitungsgrad. Auch wenn es für hochverarbeitete Fertigprodukte bisher keine allgemein anerkannte lebensmittelrechtliche Definition gibt, so lassen sie sich doch anhand einiger typischer Merkmale charakterisieren. Dazu gehören ein hoher Gehalt an freien Zuckern, gehärteten Fetten bzw. raffinierten Ölen, fraktionierten Proteinen, eine hohe Energiedichte, die Beimengung zahlreicher synthetischer Zusatzstoffe sowie eine hohe Salzkonzentration. Gleichzeitig enthalten sie wenig bis keine Vitalstoffe. Als weitere Faustregel gilt, dass industriell hergestellte Produkte in aufwändigen Plastik- oder Leichtmetallverpackungen angeboten werden, eine Nährwerttabelle sowie ein Zutatenverzeichnis auf ihrer Verpackung tragen müssen, und häufig mit Gesundheitsversprechen beworben werden. Darunter fallen auch zahlreiche vegetarische bzw. vegane Ersatzprodukte sowie Produkte mit Siegeln und Zertifikaten für biologischen Anbau, Freilandhaltung und klimafreundliche Produktion. Wenn man sich nicht sicher ist, ob es sich bei einem Produkt um ein hochverarbeitetes Fertigprodukt handelt, dann ist es vermutlich genau das.

 

Eine Studie schafft Klarheit

Kevin D. Hall gelang 2019 als erstem der wissenschaftliche Nachweis, dass der Zusammenhang zwischen dem Verzehr von hochverarbeiteten Lebensmitteln und der Entwicklung von Übergewicht kausaler Natur ist [5]. Auf Basis der NOVA-Klassifikation teilte er 20 freiwillige Probanden nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen ein. Die eine Hälfte der Teilnehmer erhielt eine Diät, die ausschließlich aus Fertigprodukten der Gruppe 4 der NOVA-Klassifikation bestand (Interventionsgruppe). Die andere Hälfte erhielt eine hinsichtlich Fett-, Eiweiß-, Kohlenhydrat-, Salz- und Ballaststoffgehalt identische Diät ohne irgendwelche Fertigprodukte. Ihre Ernährung bestand zu 80% aus frischen Lebensmitteln der NOVA-Klassifikation 1 und zu lediglich 20% aus isolierten Zutaten und konservierten Nahrungsmitteln der NOVA-Klassifikationen 2 und 3 (Kontrollgruppe). Nach zwei Wochen tauschten die beiden Gruppen ihren Speiseplan. In beiden Phasen des Experiments konnten die Teilnehmer so viel essen, wie sie wollten.

 

Wie sich herausstellte, aßen die Probanden der Interventionsgruppe etwa 500 kcal pro Tag mehr und nahmen fast ein Kilogramm zu, wohingegen sie in den zwei Wochen der Kontrollphase um ein Kilogramm abnahmen. Das Mehr an Kalorien war ausschließlich auf das Mehr an Kohlenhydraten und Fetten zurückzuführen. Die Menge an Proteinen unterschied sich nicht. Die Studie war zwar klein und von kurzer Dauer, wurde jedoch sehr sorgfältig durchgeführt, so dass die These von Monteiro, wonach der hohe Anteil an Fertigprodukten für den allgemeinen Anstieg der Fettleibigkeit verantwortlich ist, als belegt gelten kann.

 

Zahlreiche qualitativ hochwertige Beobachtungsstudien der letzten Jahre unterstützen Halls Erkenntnisse. Darüber hinaus häufen sich die Hinweise, dass stark verarbeitete Fertigprodukte nicht nur der Hauptgrund für den weltweit steilen Anstieg der Fettleibigkeit sind, sondern auch für zahlreiche weitere Gesundheitsprobleme [6, 7]. Die Assoziationen waren häufig dosisabhängig, was in epidemiologischen Studien als Hinweis auf einen ursächlichen Zusammenhang gilt [8].

 

Metabolische Programmierung

Fettleibigkeit ist bei Naturvölkern wie den Hazda oder den Yanomami ein seltenes Phänomen. Wie alle Lebewesen, so hat auch der Mensch im Laufe der Evolution neuroendokrine Feedbacksysteme zur Steuerung der Nahrungsaufnahme sowie zur Kontrolle des Energiehaushalts entwickelt. Dadurch wird das Körpergewicht innerhalb enger Grenzen reguliert, so wie es auch bei der Körpertemperatur, dem Blutdruck, dem Zuckerspiegel und dem Elektrolythaushalt der Fall ist. Ein fein abgestimmtes System von Hormonen und Botenstoffen sowie ein Netzwerk von Nerven und Blutgefäßen gleichen die Signale von Bauch und Gehirn eng miteinander ab. Durch Regulationsmechanismen, die weit unterhalb der Ebene unseres Bewusstseins operieren wird bestimmt, was, wann und wie viel wir essen. Zuständig für diese Selbstregulation ist der Hypothalamus. Gekoppelt ist das Ganze an ein Belohnungssystem, das uns zur Nahrungssuche bzw. zum Essen motiviert. Auch Tiere in der freien Wildbahn entwickeln keine Fettleibigkeit und bleiben selbst bei Nahrungsüberschuss gesund.

 

Anschlag auf die Sinne

Inhaltsstoffe wie Zucker, Fett und Salz, sowie zahlreiche künstliche Zusätze, die den Geschmack verstärken, verwirren jedoch unsere Sinne und verleiten uns zum Überessen. Unsere biologischen Regulations- und Kontrollsysteme werden außer Kraft gesetzt. Es kommt zu einem unkontrollierbaren, zwanghaften und selbstschädigenden Drang zum übermäßigen Essen. Hochverarbeitete Lebensmittel, können das Belohnungssystem im Gehirn auf ähnliche Weise aktivieren wie Alkohol, Nikotin oder harte Drogen. Die bisher dazu vorliegenden neurowissenschaftlichen Hinweise sind überzeugend [9].

 

Verhältnis- und Verhaltensprävention notwendig

Kurz nach dem Erscheinen der Studie von Hall veröffentlichte die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) einen Bericht, in dem die Studie als „solides Bindeglied“ zwischen ultraverarbeiteten Lebensmitteln und Adipositas bezeichnet wurde. Als Konsequenz aus der Studie empfehlen die Autoren die stärkere Besteuerung hochverarbeiteter Fertigprodukte sowie gesüßter Getränke, die Reduktion von Zucker, gehärteten Fetten und Salz in Nahrungsmitteln, umfangreiche Werbeeinschränkungen für ungesunde Nahrungsmittel (insbesondere für Kinder), breit angelegte Informations- und Aufklärungskampagnen für die Bevölkerung sowie eine verbesserte Lebensmittelkennzeichnung.

 

Diese Maßnahmen werden von zahlreichen medizinischen Fachgesellschaften, Verbraucherschutzorganisationen sowie der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK) unterstützt, entbinden den Einzelnen jedoch nicht von der persönlichen Verantwortung für seine eigene Gesundheit. Jeder Erwachsene ist aufgefordert sein Einkaufs- und Konsumverhalten zu überdenken und entsprechend anzupassen. Das schließt die familiäre Fürsorge der Kinder mit ein. Dazu braucht es Wissen, Entschlossenheit, Ausdauer und Selbstdisziplin. Verabschieden Sie sich von dem Gedanken, dass alles, was Sie in einem modernen Supermarkt kaufen können, gesund ist. Etwa 90 Prozent der dort angebotenen Produkte sind industriell hergestellt und gehören den NOVA-Gruppen zwei bis vier an.

 

Dr. rer. med. Franz-Werner Dippel

 

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Literatur zum Artikel: Adipositas: Keine Frage der Schuld

  1. Mensink GBM et al. Übergewicht und Adipositas in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt 2013; 56: 786-794.
  2. Monteiro CA et al. A new classification of foods based on the extent and purpose of their processing. Cad. Saúde Pública 2010; 26(11): 2039-2049,
  3. Pagliai G et al. Consumption of ultra-processed foods and health status: a systematic review and meta-analysis. Br J Nutr 2021; 125: 308–318.
  4. Schlesinger S et al. Food Groups and Risk of Overweight, Obesity, and Weight Gain: A Systematic Review and Dose-Response Meta-Analysis of Prospective Studies. Adv Nutr 2019; 10: 205–218.
  5. Hall KD et al. Ultra-processed diets cause excess calorie intake and weight gain: an inpatient randomized controlled trial of ad libitum food intake. Cell Metabolism 2019; 30: 67-77.
  6. Poti JM et al. Ultra-processed Food Intake and Obesity: What Really Matters for Health – Processing or Nutrient Content? Curr Obes Rep. 2017; 6(4): 420–431.
  7. Lane MM et al. Ultraprocessed food and chronic noncommunicable diseases: A systematic review and meta-analysis of 43 observational studies. Obesity Reviews. 2020; 1–19.
  8. Bradford Hill A. The environment and disease: association or causation. J Royal Society of Medicine 1965; 58: 295-300.
  9. Calcaterra V et al. Ultra-Processed Food, Reward System and Childhood Obesity. Children 2023; 10: 804.

 

Titelbild des Artikels: Adipositas: Keine Frage der Schuld

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2 COMMENTS
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    Gnubbel 6. Oktober 2023

    Nein, ich bin weit davon entfernt, einem studierten Biologen zu widersprechen. Aber eine kleine Ergänzung hätte ich trotzdem anzubieten. Habe mir nämlich ein paar ketzerische Gedanken gemacht, warum industriell hergestellte Lebensmittel dick machen und solche, die wir uns aus zwanzig Zutaten liebevoll selbst herstellen, nicht. Und ich habe den leisen Verdacht, dass es vielleicht gar nicht so sehr an der Verarbeitung liegt, sondern an etwas Anderem: Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, jederzeit Nahrungsmittel zur Verfügung zu haben, dass sich unser Fokus immer mehr vom Sattwerden auf den Genuss verlagert hat. Mal ehrlich, wer trinkt denn heute noch pures Wasser, wenn die Regale im Supermarkt unter hunderten Sorten von Bier, Limonaden und Fruchtsäften fast zusammenbrechen? Und wer isst denn noch einen profanen Bohneneintopf, wenn ringsherum die feinsten italienischen, griechischen oder chinesischen Delikatessen reingeschaufelt werden? Also hat man sich den Teller ordentlich voll, und weil es so gut schmeckt, isst man natürlich auch alles auf. Die reichlich enthaltenen Gewürze und Geschmacksverstärker sorgen schon dafür, dass es auch dann noch schmeckt, wenn eigentlich schon nichts mehr reinpasst.

    Ein kluger Mensch hat mal gesagt, wir essen heute so, als ob jeden Tag Sonntag wäre. Ich denke, das trifft es ziemlich genau. Vielleicht wäre es ganz gut, sich ein paar Highlights zu schaffen, die nichts mit Essen und Trinken zu tun haben, zum Beispiel mit einem Verein mitwandern oder mitradeln oder einem Tanzzirkel beitreten, um nur einige wenige Möglichkeiten zu nennen. Da hat man auch abseits der Nahrungsaufnahme jede Menge Spaß, und wenn die Anderen nach getaner „Arbeit“ zur obligatorischen Einkehr schreiten, kann man sich immer noch diskret abseilen.

    Aber vor allem sollte man seinen Frieden mit seinem Körper machen und sich darüber freuen, dass er schon seit vielen Jahren brav seinen Job macht. Es gibt viele Menschen, für die ist das gar nicht mehr so selbstverständlich. Freilich kostet das erst mal Überwindung, aber wenn man es geschafft und seine Waage in Rente geschickt hat, dann wird sich der Fokus ganz von selbst vom Essen weg verlagern.

    Übrigens hat die Dame auf dem Titelbild offenbar ein recht hübsches Gesicht. Schade, dass sie es mit der Hand verdeckt. Und warum hat sie so eine furchtbar enge weiße Bluse an? Und zu allem Überfluss setzt man auch noch so ein gertenschlankes Model neben sie. Da kann ich schon verstehen, dass sich die Stimmung der rundlichen Dame in Richtung Keller bewegt. Meine Nachbarin hat ungefähr die gleiche Gewichtsklasse, aber sie kleidet sich geschmackvoll, hat ein gesundes Selbstbewusstsein und ist unglaublich nett. Da würde niemand auf die Idee kommen, an ihrer Figur herumzumäkeln. Und wenn wir unseren Schwatz über den Gartenzaun pflegen, gibt’s auch optisch keinen Kontrast, und das ist gut so.

    Nebenbei bemerkt, ist die These, dass man, wenn man täglich 250 kcal zu viel zu sich nimmt, im Jahr 12 Kilo zunimmt, eine leider sehr populäre Milchmädchenrechnung. Ein schwererer Körper braucht auch mehr Energie, und so wird irgendwann der Energiebedarf wieder der Energieaufnahme entsprechen und sich das Körpergewicht auf einem etwas höheren Niveau einpegeln. Das ist auch der Grund, warum man umgekehrt bei einer Kalorienreduktion irgendwann nicht mehr abnimmt. Dann hat man genau zwei Optionen: entweder die Nahrungsmenge noch weiter zu reduzieren – oder mit dem Unsinn aufzuhören, mit dem man nur sein Gehirn quält, und seinen Frieden mit seinem Körper zu machen.

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