Seit über 220 Jahren: Ketogene Diät in der Medizin
Die ketogene Diät fühlt sich für viele als eine noch junge Ernährungsform an, ist sie jedoch nicht. Frau Prof. Kämmerer nimmt uns mit auf die Reise…
Prof. Dr. rer. hum. biol. Ulrike Kämmerer
arbeitet als Biologin in der Universitätsklinik Würzburg. Sie beschäftigt sich schon seit Jahren mit dem Thema Krebs und Ernährung. Ihr Spezialgebiet ist die ketogene Diät / Ernährung bei Krebspatienten. Sie ist Buchautorin und Referentin, auch schult sie Ärzte.
Ketogene Diät in der Medizin der letzten 220 Jahre
Ketogene Diäten (KD) rücken seit ca. 10 Jahren als ergänzende therapeutische Maßnahme bei verschiedensten Erkrankungen, über den meist verbreiteten „Diätzweck“ zur Gewichtsreduktion hinaus, zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit. Was viele nicht wissen: Diese Ernährungsform wird seit inzwischen 220 Jahren in der medizinischen Literatur erwähnt. Die erste Publikation, die den medizinischen Einsatz einer (damals noch nicht so benannten) ketogenen Diät beschreibt, ist von dem britischen Armeechirurgen John Rollo bereits 1797 publiziert worden. Er beschreibt die Diät zur Heilung zweier stark übergewichtiger Armeeoffiziere von ihrem (damals tödlichen) Diabetes mellitus.
Was damals noch eher anekdotische Einzelfälle waren, sorgte 70 Jahre später in einem anderen Zusammenhang für Furore: Der englische Bestattungsunternehmer William Banting war extrem übergewichtig und krank und keine der damals üblichen „Diäten“ konnte ihm helfen. Bis ihm sein Arzt William Harvey die Rollosche „Fleischdiät“ empfahl. Mit dieser Diät aus Eiern, Fleisch, Gemüse und Fett nahm er erfolgreich innerhalb eines Jahres 25 kg und 33 cm Bauchumfang ab, „ohne zu leiden“ und auch die Krankheitssymptome verschwanden. Davon war er so begeistert, dass er ein kleines Werk, genannt „Letter on Corpulence“, schrieb. Dieses verbreitete sich 1000fach und löste damals als „Banting-Diät“ europaweit die erste Welle der „LCHF“-Reduktionsdiäten aus, wie sie erst 100 Jahre später durch Robert Atkins wieder aufkamen.
In der Zwischenzeit, von 1900 – 1940, wurde die „Fleischdiät“ vor allem im Zusammenhang mit der Ernährung der Eskimos untersucht. Zusammengefasst vor allem in den Arbeiten von Vilhjamur Stefansson. Der beschreibt in dem Buch „Cancer, Disease of Civilization?“, dass mithilfe der „friendly arctic diet“ das offensichtliche Fehlen von Krebsfällen bei alten Eskimos zu erklären war. Er selber lebte sehr lange eine nahezu ketogene (vermutlich eher LCHF) Diät und stellte fest, dass „he had never been in better health in his life“, als während seiner 11 Jahre, die er mit den Eskimos verbrachte und deren „Fisch- und Fleischdiät“ aß.
Um auch die Zweifler zu überzeugen – in den 20-er Jahren wurden gerade erst die Vitamine entdeckt und es wurde aus der Skorbut-Erfahrung heraus vermutet, ohne Obst würde man sterben… – ernährten er und ein Kollege sich unter kontrollierten medizinischen Bedingungen in New York für 12 Monate nach der „Eskimodiät“. Die Ergebnisse wurden in verschiedensten medizinischen Fachartikeln beschrieben und zeigten, dass es beiden mit der Ernährung bestens ging, in der der Großteil der Kalorien aus Fett stammte – und das wird explizit erwähnt –, nicht aus magerem Fleisch.
Ab 1921 wurde an der Mayo Clinic eine echte ketogene Diät erstmals klinisch für Kinder mit Epilepsie erprobt. Diese wurde dann ab 1925 in der noch heute in der Kinderbehandlung oft genutzten Formulierung vor allem an der Johns Hopkins Universität angewendet. Selbst dann noch, als es schon etliche wirksame Epilepsiemedikamente gab, die andernorts zum „Aussterben“ der ketogenen Diät in der Epilepsietherapie führten. Hier an der Hopkins Universität konnte auch 1993 der damals zweijährige Charlie Abrahams von seiner sehr starken und mit Medikamenten nicht therapierbaren Epilepsie durch die ketogene Diät geheilt werden. Sein Vater, der Hollywoodregisseur Jim Abrahams, gründete daraufhin 1994 die „Charlie Foundation“, welche die Erforschung und Anwendung der ketogenen Diät fördert. Er produzierte auch einen Film (first do not harm) mit Meryl Streep, in dem die abenteuerliche Geschichte eines durch die KD anfallsfrei gewordenen Jungen (beruht auf einem Realfall) vorgestellt wird. Seitdem wird die KD in immer mehr Zentren für Kinder (und inzwischen auch Erwachsene) mit Epilepsie angeboten – allerdings nach wie vor erst, wenn die Kinder schon mehrere Pharmaka erfolglos ausprobiert haben.
Bei Krebs wurde der Einsatz der ketogene Diät bei Patienten erstmals 1995, also fast zeitgleich mit der Charlie- Foundation-Gründung, publiziert: Zwei Kinder mit Astrozytom, einem fortgeschrittenen Hirntumor, wurden im Rahmen einer Doktorarbeit von Linda Nebeling über 8 Wochen mit der ketogenen Diät ernährt und erzielten damit sehr positive Effekte. Dennoch dauerte es weitere 10 Jahre, bis Thomas Seyfried aus Boston in der Zeitschrift „Medical Hypothesis“ die KD als unterstützende Therapie der Wahl bei Hirntumoren vorstellte. Erfolgreiche Behandlungen von Tumoren mit der ketogenen Diät bei Tierexperimenten gab es bereits seit 1987, allerdings ohne diese in die Klinik zu übertragen. Ein Fallbericht von Thomas Seyfried (2010) und eine Fallserie aus Würzburg (2011) waren dann die ersten weiteren Patientenberichte zur ketogenen Diät bei Tumorerkrankungen. Seitdem werden immer mehr klinische Studien durchgeführt und Fallberichte publiziert, jedoch ist die KD bei Krebs noch immer nicht einmal als unterstützende Therapie in den Kliniken angekommen. Ein weiteres spannendes Feld als Einsatzgebiet der KD eröffnete sich mit einem Artikel von Mary Newport, in dem sie 2008 den Fall ihres Mannes Steve vorstellte. Er litt an einer schweren Form einer früh einsetzenden Alzheimer-Demenz, die sich durch die Zugabe von Kokosöl (welches im Körper Ketone produziert) mental und kognitiv deutlich verbesserte, auch wenn er keine ketogene Diät durchführte. Die „verbesserte“ Form, die ketogene Diät, wird derzeit auch für andere Formen von neurodegenerativen Erkrankungen getestet. So sind 220 Jahren nach der ersten Beschreibung aus der Rolloschen „Fleischdiät“ sehr viele Einsatzgebiete und auch Varianten von ketogenen Diäten entstanden, welche sehr spannende Therapieoptionen für die Zukunft bieten.
Ulrike Kämmerer
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