Seit wann ist Ernährung eigentlich so kompliziert?
Der Artikel „Seit wann ist Ernährung eigentlich so kompliziert?“ unserer Kollegin Melanie Ryan ist ein Augenöffner, was in Sachen Ernährung schief läuft. Vielen Dank dafür.
Seit wann ist Ernährung eigentlich so kompliziert?
Wer dem LCHF-Deutschland-Blog folgt, der weiß eine ganze Menge über Ernährung. Es ist ein Thema, das uns interessiert und wir setzen das, was wir gelernt haben und noch lernen auch um und spüren die Vorteile. Aber findet ihr es nicht seltsam, dass man das überhaupt „wissen“ muss? Ist denn nicht essen eine fundamentale Voraussetzung für das Leben? Wie kann es so schwierig sein, zu wissen was gut ist und was nicht? Für Tausende von Jahren ist die Menschheit wunderbar zurechtgekommen, ohne irgendetwas über Ernährung zu wissen. Man aß einfach, was man hatte. Und dann fingen wir an, „Verbesserungen“ vorzunehmen.
Alles, was Menschen erfinden, kommt mit – meist negativen – Nebenwirkungen. Es gibt nicht viel, das wir besser machen als die Natur. Die Konsequenzen sind zunächst nicht immer absehbar, holen uns dann aber irgendwann ein.
Ein Grund dafür, dass essen heute so kompliziert zu sein scheint, ist Halbwissen. Damit meine ich nicht das Halbwissen von Individuen, von Ärzten, Ernährungsexperten oder der Öffentlichkeit, sondern das Halbwissen sogar der Forschung. Wir machen eine Entdeckung – zum Beispiel, dass sich in den Arterien von Herzinfarktopfern Cholesterin findet – und ziehen die falschen (zu einfachen) Schlüsse, die dann zu Empfehlungen führen, die alles nur noch schlimmer machen. Der Körper ist ungemein kompliziert, und je mehr wir lernen, desto mehr zeigt sich, dass wir keine Ahnung haben.
Viele Ernährungsexperten sehen in den Ernährungspyramiden oder -tellern, die die meisten Regierungen als Grundlage ihrer Ernährungsempfehlungen verwenden, als problematisch an und wünschen sich, dass sie abgeschafft würden. Die Empfehlungen basieren in der Regel auf einer bestimmten Verteilung von Makronährstoffen (Eiweiß, Fett, Kohlenhydrate) und Kalorien. Die meisten Ernährungswissenschaftler erklären heute die Kaloriengleichung für viel zu simpel – der Stoffwechsel ist komplizierter – und was nun eine gesunde Makronährstoffverteilung ist, darüber scheiden sich die Geister. Außerdem sind wir nicht alle gleich und haben deshalb auch unterschiedliche Bedürfnisse.
Wie kam die Menschheit früher zurecht, als kein Verbraucher auch nur die leiseste Ahnung (oder gar Sorge) darüber hatte, welche Nährstoffzusammensetzung sein Essen hatte? Was ist heute anders?
In Großbritannien und den USA kommen bereits 50 % aller verzehrten Kalorien von ultra-verarbeiteten Lebensmitteln. Die sind neu. Obwohl es schon seit dem 19. Jahrhundert Lebensmittelzusätze gab, ging es damit so richtig erst in der Nachkriegszeit des 20. Jahrhundert los, und bisher ist kein Ende in Sicht. Ob man nun an die Ernährung der Steinzeit denkt oder die, die der Ackerbau ermöglichte – mit Getreide, Hülsenfrüchten und Milch – oder exotische Lebensmittel, die uns dank Welthandel zur Verfügung stehen (Zucker, Gewürze, Tropenfrüchte): Was es nie zuvor gab, waren Lebensmittel, die aus Fabriken kamen.
Im Jahr 2014 unternahm die brasilianische Regierung den radikalen Schritt, ihren Bürgern von ultra-verarbeiteten Lebensmitteln abzuraten. Das Land handelte aus einem Gefühl der Dringlichkeit heraus, denn die Zahl der jungen brasilianischen Erwachsenen mit Fettleibigkeit war sehr hoch und war sehr schnell gestiegen. Sie hatte sich zwischen 2002 und 2013 mehr als verdoppelt (von 7,5 % der Bevölkerung auf 17,5 %). Diese radikalen neuen Richtlinien hielten die Brasilianer an, auf Süßigkeiten zu verzichten und sich Zeit für gesundes Essen in ihrem Leben zu nehmen, wenn möglich regelmäßige Mahlzeiten in Gesellschaft einzunehmen, Kochen zu lernen und es ihren Kindern wieder beizubringen. Sie riet auch „bei allen Formen der Lebensmittelwerbung vorsichtig zu sein“. Wenn man so darüber nachdenkt: Wann habt ihr zuletzt Werbung für Äpfel oder Weißkohl gesehen?
Die größte Neuerung in den brasilianischen Richtlinien bestand darin, die Lebensmittelverarbeitung zum wichtigsten Thema der öffentlichen Gesundheit zu machen. Das neue Regelwerk ordnete ungesunde Lebensmittel weniger nach den enthaltenen Makronährstoffen ein als auf den Grad ihrer Verarbeitung (konserviert, emulgiert, gesüßt usw.). Keine staatliche Ernährungsrichtlinie hat Lebensmittel jemals zuvor auf diese Weise kategorisiert. Eine der ersten Regeln in den brasilianischen Richtlinien war, „den Verzehr von ultra-verarbeiteten Produkten zu vermeiden“. Sie verurteilten auf einen Schlag nicht nur Fast Food oder zuckerhaltige Snacks, sondern auch viele Lebensmittel, die so umgestaltet wurden, dass sie gesundheitsfördernd erscheinen, von „Lite“-Margarinen bis hin zu vitaminangereicherten Frühstückszerealien.
Das Konzept der ultra-verarbeiteten Lebensmittel entstand in den frühen Jahren des 21. Jahrhunderts, als ein brasilianischer Wissenschaftler namens Carlos Monteiro ein Paradoxon bemerkte. Die Menschen schienen weniger Zucker zu kaufen, doch Fettleibigkeit und Typ-2-Diabetes nahmen zu. Ein Team von brasilianischen Ernährungsforschern unter der Leitung von Monteiro an der Universität von São Paulo hatte seit den 80er Jahren die Ernährung des Landes beobachtet und Haushalte gebeten, die gekauften Lebensmittel zu erfassen. Einer der größten Trends, der aus den Daten hervorging, war, dass die Menge an Zucker und Öl, die die Menschen kauften, zwar zurückging, der Zuckerverbrauch aber enorm anstieg. Wer Zucker und Öl kauft, der kocht und backt. Wenn aber weniger Zucker und Öl eingekauft werden, aber dennoch der nationale Zuckerverbrauch steigt, dann liegt das an verzehrfertigen zuckerhaltigen Produkten, von abgepacktem Kuchen bis hin zu Schokoladenfrühstücksflocken, die man leicht in großen Mengen essen kann, ohne darüber nachzudenken.
Das „Nova-System“
Monteiro entwickelte sein „Nova-System“, dass die Ernährungspyramide ersetzen sollte. Es hat vier Gruppen. Er empfiehlt, sich auf die ersten drei zu beschränken und die vierte zu meiden:
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Unverarbeitete oder minimal verarbeitete Lebensmittel
Nahezu alles ist irgendwie bereits verarbeitet, und wenn es nur gewaschen ist. Erbsen werden eingefroren, eine Rosine getrocknet, ein Fisch entgrätet.
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Verarbeitete kulinarische Zutaten
Butter und Salz, Zucker und Schmalz, Öl und Mehl. Diese Lebensmittel sind verarbeitet, werden aber nur in kleinen Mengen verwendet, um Lebensmittel der Gruppe 1 schmackhafter zu machen.
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Verarbeitete Lebensmittel
Lebensmitteln, die konserviert (z. B. eingeweckt), eingelegt, fermentiert oder gesalzen wurden. Meist handelt es sich um Lebensmittel der Gruppe 1, die mit Hilfe von Lebensmittel der Gruppe 2 haltbar oder genießbar gemacht wurden (z. B. Sauerteigbrot).
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Ultra-verarbeitete Lebensmittel
Die Lebensmittel der Gruppe 4 bestehen in der Regel zum größten Teil aus Zucker, Ölen und Stärke der Gruppe 2, aber anstatt sparsam eingesetzt zu werden, um frische Lebensmittel (Gruppe 1) schmackhafter zu machen, werden diese Zutaten jetzt durch Farben, Emulgatoren, Aromen und andere Zusätze genießbar gemacht. Sie enthalten Zutaten, die in der Küche zu Hause nicht bekannt sind, wie Sojaproteinisolate (in Müsliriegeln oder Shakes mit Eiweißzusatz) und „mechanisch getrenntes Fleisch“ (Puten-Hotdogs, Fast Food Burger).
Wenn man das Argument akzeptiert, dass die Verarbeitung von Lebensmitteln Teil des Problems ist, dann wird die Feinabstimmung und Neuformulierung der Produkte zu einer bedeutungslosen Augenwischerei. Ein ultra-verarbeitetes Lebensmittel kann auf unzählige Weisen umformuliert werden. Das einzige, in das es nicht umgewandelt werden kann, ist ein unverarbeitetes Lebensmittel.
Low-Carb ist für viele von uns die Lösung. Es ist leicht umsetzbar und schmeckt. Wer aber noch „normal“ isst – also mit reichlich ultra-verarbeiteten Nahrungsmitteln – für den mag es am Anfang ein zu großer Schritt sein. Mein Tipp für die, die erst am Anfang zu einer Umstellung auf gesunde Ernährung stehen ist mit folgendem zu beginnen:
echtes Essen essen.
Neuigkeiten
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Literaturhinweis:
Monteiro CA, Cannon G, Levy RB, et al (2019): Ultra-processed foods: what they are and how to identify them. Public Health Nutr. 2019 Apr;22(5):936-941. doi: 10.1017/S1368980018003762. Epub 2019 Feb 12.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/30744710
Titelbild: Timolina by Envato
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